Keller ist keiner, der die Klimaveränderung leugnet -

aber auch keiner, der sie beklagt. Als Wissenschaftler ist sie für ihn ein Antrieb, nach Möglichkeiten zu suchen, um sie zu entschärfen. Und Keller glaubt an die Fähigkeit des Menschen, für das Klima Dinge zu tun, die noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar waren: «Noch nie hatten wir so viele Werkzeuge zur Verfügung, etwas gegen den Klimawandel zu tun», sagt er. «Die Liste der Möglichkeiten ist auf jeden Fall länger als die Liste der Horrorszenarien.» Den Leuten Angst zu machen, bringe sowieso nichts, sagt der Gletscherforscher, der sich auch intensiv mit Umweltpsychologie beschäftigt. «Ein innerer Antrieb ist immer stärker als ein Antrieb von aussen.»

Statt den Klimakollaps an die Wand zu malen, sollten wir mehr die Möglichkeiten aufzeigen, wie man ihn verhindern kann. «Physiotherapeuten sagen ihren Unfallpatienten, sie sollen nicht an den Unfall zurückdenken, sondern an die Möglichkeiten, die noch vor ihnen liegen.» Und genau so will Keller die Menschen motivieren, sich für die Milderung des Klimaproblems zu engagieren. Er sagt überzeugt: «Wir werden es schaffen, von den fossilen Brennstoffen wegzukommen.»

Gletscher sind riesige Wasserspeicher. Ohne sie würde nicht nur der Meeresspiegel stark steigen, auch in den Alpen und anderen Gebirgen der Erde würde eine Wasserkrise ausbrechen. Mehr als 200 Millionen Menschen rund um den Himalaya trinken zum Beispiel Wasser, das aus Gletschern kommt und bewässern ihre Felder damit.»

Das Abschmelzen der weissen Riesen bedeutet für sie eine akute Bedrohung.

Deshalb forscht Keller an der Möglichkeit, wie das Abschmelzen der Gletscher abgebremst werden kann. Wenn – wie im vergangenen Winter – wenig Schnee fällt, bildet sich auf den Gletschern wenig neues Eis. Gleichzeitig fehlt mit dem Schnee auch die wichtige Reflexion des Sonnenlichts und Isolation gegen die Wärme des danach folgenden Sommers. Sie verlieren an Masse und viel Wasser fliesst ab.

Wir müssten es wohl 15 Winter lang schneien lassen, damit dies an der Gletscherzunge sichtbar würde. Wer weiss, ob ich das noch erlebe.

Auf dem Morteratschgletscher bei Pontresina plant er deshalb einen Modellversuch, um den Gletscher zu beschneien und so den Schmelzprozess zu verlangsamen. «Wir müssten es wohl 15 Winter lang schneien lassen, damit dies an der Gletscherzunge sichtbar würde. Wer weiss, ob ich das noch erlebe», lächelt der Sechzigjährige. Zur Schneeproduktion soll Schmelzwasser aus einem See unter dem höher gelegenen Persgletscher herangeführt werden. Es würde durch neu entwickelte Sprühdüsen, die an Seilen über dem Morteratschgletscher hängen, fein zerstäubt und dann als Schnee auf den Gletscher fallen. Der Clou: Die Anlage würde allein durch das Gefälle zwischen dem natürlichen See und dem Gletscher funktionieren und keine elektrische Energie brauchen. Natur- und Landschaftsschutz haben dennoch ihre Vorbehalte angemeldet und Felix Keller kann sie verstehen: «Der Morteratschgletscher liegt in einer sensiblen Landschaft. Wenn es wissenschaftlich nicht notwendig ist, sollten wir sie nicht mit den Seilkonstruktionen belasten, wenn wir die Versuchsanlage anderswo bauen können, wo sie gleichzeitig einen Effekt für die Bevölkerung erzielen kann.»

Der Morteratschgletscher ist einer der beliebtesten Gletscher der Region. Im Sommer ist er ein beliebtes Ziel für Wanderungen, im Winter führt eine Langlaufloipe bis an die Gletscherzunge und die beliebte Gletscherabfahrt von der Diavolezza endet hier. Ein Gag für den Tourismus ist das Projekt dennoch nicht. «Wasser wird in einem Gletscher 30 bis 50 Jahre gespeichert. Wenn es uns gelingt, Gletscher durch die Beschneiung wieder länger werden zu lassen, können wir damit möglicherweise in Indien, Südamerika oder anderen Regionen der Welt grosse Probleme für hunderte Millionen von Menschen lindern.»

Keller ist vorsichtig optimistisch: «Wir konnten eine Reihe von technischen Problemen lösen und über kürzere Zeit auch Schnee produzieren. Nun suchen wir Orte, wo wir unsere "Schneeseile" über grössere Flächen spannen und über längere Zeit testen können.» Frühestens 2031 könnte der Bau der Anlage am Morteratschgletscher beginnen.

Wir werden es schaffen, von den fossilen Brennstoffen wegzukommen.
Felix Keller
Glaziologe

Dr. sc. nat. ETH Felix Keller (60), Glaziologe

In Samedan aufgewachsen, studierte Felix Keller an der ETH Zürich in Glaziologie, der Wissenschaft von Eis und Schnee. An der Academia Engiadina in Samedan baute er das Zentrum für angewandte Glaziologie auf und leitet es bis heute. 2017 wurde er Präsident des Vereins GlaciersAlive, der sich mit Wassermanagement im Zusammenhang mit Gletschern im Hochgebirge befasst. Das Projekt «MortAlive» untersucht die Möglichkeit, Gletscher zu beschneien und so wieder wachsen zu lassen.

www.mortalive.ch